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Freitag, 20. Juli 2007

Verschleierte Tatsachen

20. Juli 2007, 00:00 Uhr

Kommentar von Elif Shafak (in der Tageszeitung "Welt")

Elif-gde

Verschleierte Tatsachen

Am 23. Juli werden nach den Wahlen 23 Millionen Türken in einer neuen Türkei aufwachen. Was geschehen wird, ist schwer absehbar. Heute sind es die Frauen, nicht die Männer, die im Mittelpunkt der politischen Debatte stehen. Tatsächlich hat sich bei diesen Wahlen die Zahl der Kandidatinnen aus allen Parteien sichtbar erhöht, und dasselbe gilt für das politische Engagement der Frauen insgesamt.

Die aktuellen Wahlen finden statt, weil die weltliche Elite des Landes schaudernd zurückschreckte, als die derzeit herrschende konservative Partei AKP Außenminister Abdullah Gül als ihren Präsidentschaftskandidaten präsentierte. Das Problem dabei war nicht Gül; das Problem war seine Frau. Wäre Gül zum Präsidenten gewählt worden, hätte die Türkei ihre erste Kopftuch tragende First Lady gehabt. Das Kopftuch von Frau Gül wurde als Symbol für nahende dunklere Veränderungen interpretiert.

Was folgte, waren nie da gewesene politische Turbulenzen und Massendemonstrationen. Es gab fieberhaftes Gerede über einen möglichen Militärputsch, und die Armee erwies sich einmal mehr als grundlegender politischer Akteur. Bei all dem standen die türkischen Frauen an vorderster Front - insbesondere die westlichen, modernen, weltlichen Frauen der Türkei, die entschlossen schienen, ihren Widerstand gegen die Existenz der "anderen" türkischen Frau zu zeigen.

Fragen des Geschlechts waren für den türkischen Nationalstaat schon immer von grundlegender Bedeutung. Der auf den Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, zurückgehende Kemalismus ist unter allen muslimischen Reformbewegungen insofern einzigartig, als er nicht allein die öffentliche, sondern auch die private Sphäre verwandelte. In den 20er- und 30er-Jahren entwickelte sich unter der Herrschaft Atatürks die "neue türkische Frau" zur Ikone des modernen säkularen Regimes. Religiöse Symbole und Referenzen wurden in der Türkei in großem Umfang aus dem öffentlichen Raum entfernt, und die Religion gilt als Privatangelegenheit. 80 Jahre nach Gründung der Republik besteht das Problem mit den Kopftuch tragenden Frauen darin, dass sie dem Bild der idealen modernen türkischen Frau nicht entsprechen. Im täglichen Leben sind die beiden türkischen Frauentypen aber stärker durchmischt, als angenommen wird. Bei einem Spaziergang entlang der belebten Straßen Istanbuls kann man sehen, dass Kopftuch tragende und kein Kopftuch tragende Frauen sich mühelos mischen. Warum also lässt sich im Bereich der Politik keine ähnliche Schwesternschaft erreichen?

Eine kürzlich veröffentlichte Meinungsumfrage zeigt, dass etwa 60 Prozent der Frauen in der Türkei außerhalb der eigenen vier Wände ihr Haupt bedecken. Aber bedeutet dies, dass sie alle den islamischen Fundamentalismus unterstützen? Die Antwort auf die Frage lautet: Nein.

Frauen tragen das Kopftuch aus unterschiedlichen Gründen. Einige tragen es aus Gewohnheit oder aus traditionellen Gründen. Andere sind politisch motiviert. Nicht alle Frauen tragen das Kopftuch aufgrund ihres religiösen Konservatismus.

Die Meinungsumfrage zeigte, dass der Anteil der Frauen, die ihren Kopf vollständig und eher aus politischen Gründen als aus Gründen der Tradition bedeckt halten, nicht mehr als elf Prozent beträgt. Wenn man auf die Nuancen achtet, ergibt sich ein enormer Unterschied.

Diese Komplexität wird nicht nur von westlichen Beobachtern, sondern auch von der türkischen Elite übersehen. Weil sich ideologische Konflikte hier auf den Körper und die Kleidung von Frauen zu konzentrieren scheinen, ist es vielleicht Zeit, nicht länger zu fragen: "Wie sollte eine ideale türkische Frau aussehen?", sondern die Frage aufzuwerfen: "Sollte es überhaupt eine ideale türkische Frau geben?" Schließlich ist der Pluralismus nicht nur ein politisches Prinzip, sondern eines, das eine freie Gesellschaft auch auf das Individuum anwendet.

In der Türkei ringen wir seit mehr als 150 Jahren mit der Frage, ob der Islam mit der westlichen Demokratie koexistieren kann. Nach 150 Jahren der Verwestlichung und Modernisierung lautet unsere Antwort eindeutig: Ja. Die Türkei ist ein kompliziertes Land mit einer Vielzahl von Dilemmata. Es sind die Frauen, die die Spannungen des Landes gleichermaßen heilen wie verstärken.

Elif Shafak ist eine der erfolgreichsten türkischen Schriftstellerinnen, von ihr erschienen "Bastard von Istanbul" und "Die Heilige des nahenden Irrsinns"


Quelle: http://www.welt.de/welt_print/article1040388/Verschleierte_Tatsachen.html

über Elif Shafak: http://www.literaturca.de/html/elif_shafak.htm

about Elif Shafak: http://www.elifsafak.net/biography.html

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